Sexualität und moralische Werte einer Gesellschaft gehen Hand in Hand. Wie bei allen anderen sozialen Normen ist das Sexualverhalten, aber auch der Grad der sexuellen Freiheit, von der Kultur und der Epoche abhängig. Selbst in Europa war der Weg zur Selbstbestimmung über den Körper ein langer und steiniger.
So war auch die sexuelle Revolution der Moderne kein für sich stehendes Ereignis, vielmehr war sie Ergebnis, Begleitwerk, Symbol und Speerspitze einer steten Entwicklung, eines industriellen und gesellschaftlichen Umbruchs in Europa und Amerika. Schon im Laufe der französischen Revolution 1789 wurden viele Fragen zur Sexualität behandelt. Im weiteren Verlauf blieb die Weiterführung dieser Fragen zwar vorerst aus, ein erstes beachtliches Ergebnis war jedoch der Verlust des Sexualstrafrechts seitens des Klerus.
Sexualität war in der westlichen Hemisphäre – gemeint sind Europa und die USA – in ihrer Geschichte ebenso stark an religiöse, familiäre und eheliche Zwänge, Riten und Richtlinien gebunden, wie man es heute noch in vielen asiatischen, afrikanischen und orientalischen Kulturkreisen findet. Repressive Gesetzgebungen untermauerten in Europa die eheliche und familiäre Prägung der Sexualität, freier Meinungs- und Gedankenaustausch war von der Zensur unterbunden, die Öffentlichkeit blieb unaufgeklärt und unter starkem Einfluss der Kirche und deren feindlicher Haltung zu triebmotiviertem Sex.
Erst die Herstellung und Verbreitung von Kondomen förderte einen freieren Umgang mit Familienplanung und Geschlechtsverkehr, ließ die Selbstbestimmung der Frau voranschreiten und führte letztlich zu einer Aushöhlung des ideologischen Zwangssystems von unten. Nach den Wirren des Ersten Weltkriegs, der in Europa die alten gesellschaftlichen und moralischen Strukturen zerbrochen hatte, schritt die sexuelle Revolution (mit einigen Rückschlägen) bis zum heutigen Status des Rechts auf Freiheit voran.
Die Eckpfeiler der Entwicklung der sexuellen Freiheit in Europa heißen Aufklärung und Säkularisierung. Die Freiheit des Denkens und der Gedanken, aber auch die nahezu verschwundene Macht der Kirche über den Einzelnen überwanden jene Zeiten, da auf diesem Kontinent Analverkehr unter Folter und Todesstrafe verboten waren. Heute ist Sex Privatsache und seine freie Ausübung das individuelle Recht jedes Bürgers – ein Gut das nicht hoch genug einzuschätzen ist. Denn in manchen streng geführten islamischen Ländern bedeutet analer Verkehr immer noch den Tod.
Schon dieses eine Beispiel zeigt dramatisch, dass das Sprichwort „andere Länder, andere Sitten“ in Wahrheit „andere Länder, anderer Moralkodices“ heißen sollte. Oft scheinheilig, weil vor allem von Männern missachtet, reicht ein Verhaltenskodex als patriarchalischer Anspruch tief in das alltägliche Leben der Menschen hinein. Selbst die Unversehrtheit des weiblichen Geschlechtsorgan verbleibt nicht unter der Kontrolle seiner Besitzerin, sondern scheint dem Mann zu obliegen, dem eine höhere Instanz den Rücken stärkt.
Ebenso wie bis ein Jahrhundert zuvor in Europa dient solcher “moralischer“ Anspruch in den betroffenen Ländern der Unterdrückung der weiblichen Eigenständigkeit. Aber auch die Männer sind in solchen Systemen scheinbar Gefangene ihres eigenen Kodices, denn sie fühlen sich geradezu zur Doppelmoral verdammt, zum schönen Schein.
So herrscht in Ländern wie Saudi-Arabien die Sitte, dass sich ein junger Mann sexuell vor der Ehe nicht beschmutzen darf. Um die damit einhergehende Enthaltsamkeit nicht auf sich nehmen zu müssen, fanden Männer einen Ausweg: Sex mit Ungläubigen, also Frauen aus dem Westen. Die religiös motivierte Moral hat also der männlichen Annehmlichkeit kaum etwas entgegen zu setzen.
In einigen afrikanischen Ländern wird der Frau gar ihr Recht auf sexuelle Lust verwehrt. Beschneidungen der Klitoris gehören wohl zu den grausamsten und repressivsten Ritualen, die Menschen ihrer sexuellen Freiheit berauben und die sie obendrein auch noch verstümmeln. Auch hier spielen patriarchalischer Ritus und Kodex eine wesentliche Rolle. Und beweisen obendrein, dass sexuelle Revolution nur Hand in Hand mit grundlegendem gesellschaftlichem Wandel voranschreiten kann.
[red]
Linktipps:
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Sexualität und Gesellschaft – Magnus Hirschfeld Institut für Sexualwissenschaft
M wie Moral. Im Alphabet der Sexualität
Sexfantasien – I
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Soll man einen Seitensprung beichten?